Triggerwarnung
Diese Geschichte enthält explizite Beschreibungen von Gewalt, Traumata, Familienkonflikten und Verlust. Leserinnen und Leser, die empfindlich auf solche Themen reagieren, sollten Vorsicht walten lassen. Es wird empfohlen, sich bei Bedarf Unterstützung zu suchen.
Es ist nicht meine Schuld. Das würde nicht passieren, wenn die Tür richtig verriegelt wäre. Ist sie aber nicht. In 13 Jahren einmal nicht richtig verriegelt. Es ist ein Versehen. Niemand kann etwas dafür. Ich nicht und meine Eltern auch nicht. Aber jetzt spielt das keine Rolle mehr. Jetzt sind sie tot.
Die Nachbarn rufen die Polizei, als sie mich im Morgengrauen entdecken. Nackt und mit Blut überströmt. Noch vor Ort versorgen mich zwei Sanitäter.
Ich habe Würgemale am Hals. Eine Stichwunde in der Seite. Ein Wunder, dass ich am Leben bin, sagen sie. Ein Wunder.
Schon am Abend ist es in den Nachrichten. Ein Familiendrama nennen sie es. Die Tat eines Familienauslöschers. Da haben sie wohl recht. Aber nur damit.
Mein Vater wird als Schuldiger ausgemacht. Erst die Frau, dann das Kind wollte er töten. Dann sich selbst.
Ein Blutbad habe er angerichtet. Wie ein Tier sei er auf seine Liebsten losgegangen. Die Kehle der Frau zerfetzt. So wie seine eigene Brust. Wie er das angestellt hat? Im Wahn. Im Wahn muss es gewesen sein. Ersthelfer seien in Therapie wegen all der Grausamkeit. Doch in der Dunkelheit ist ein Schimmer der Hoffnung: das Kind lebt.
Nur das ist wahr. Das Kind lebt. Ich lebe.
Richtigstellen kann ich nicht, was die Presse sich zusammengereimt hat. Die Wahrheit würde mir niemand glauben. Lügen will ich nicht. Und so erzähle ich nur, was wahr ist und glaubhaft.
Mein Vater hat mich gepackt. Am Hals. Hat so fest zugedrückt wie er nur konnte, während meine Mutter schrie und versuchte, zu entkommen. Doch sie war einfach nicht schnell genug.
Die Polizisten, die mich befragen, nicken. Notieren alles. Einer starrt mich nur an. Er hat Tränen in den Augen.
Wenig später ziehe ich ins Kinderheim. Es gibt niemanden, der mich sonst aufnehmen könnte. Keine Verwandtschaft. Keine Paten.
Genau 30 Tage nach der Nacht reiße ich aus. Renne durch die Wälder und werde am nächsten Morgen aufgegriffen. Nackt und Dreck verschmiert.
Die Therapeutin empfiehlt ein Camp für Systemsprenger. In der Natur komme ich vielleicht zur Ruhe, hofft sie.
Zwei Wochen später bin ich in einem Zeltlager mit zwei Dutzend anderen Jugendlichen. Fast jeder hier hat schon jemanden sterben sehen. Den Bruder, der sich aufgehängt hat. Die Mutter mit der Spritze im Arm.
Im Wald bin ich nichts Besonderes. Nicht in dieser Hinsicht. Ich sitze also am Lagerfeuer, bade im See, schließe Freundschaften. Und weiß doch, dass keine davon bestand haben wird.
Genau 59 Tage sind seit dem Tod meiner Eltern vergangen. Früh am Abend ziehe ich mich in mein Zelt zurück. Ich lege meine Klamotten ab, falte sie ordentlich zusammen. Dann trete ich hinaus.
Einem Jungen steht der Mund offen, als er mich so sieht. Er deutet auf mich und macht eine vulgäre Geste. Dann lacht er. Nicht mehr lange. Denn da ist er schon, der volle Mond.