Neusüß‘ letzter Fall

Neusüß war auf dem Weg, sich zu entschuldigen. Das war seine letzte Amtshandlung, bevor er in den Ruhestand ging. Dass dieser Ruhestand jedoch wohlverdient war, das bezweifelte Neusüß. Genau deswegen machte er sich am Tag nach dem Abschied von den Kollegen und über dreißig Jahren im Polizeidienst auf den Weg in die Pfalz.

Das Weingut Sommer war sein Ziel. Neusüß war an sich kein Weinkenner. Er trank lieber Tee als Alkohol. Aber er hatte hier etwas zu erledigen, das ihn sonst nicht loslassen würde. Er musste sich entschuldigen und würde dann so lange bleiben, bis die Sommers ihren Frust über Neusüß’ Unfähigkeit an ihm ausgelassen hatten.

Fünfzehn Jahre zuvor hatte er einen Mordfall übernommen. Gerhard Sommer war tot zwischen den Reben seines Weingutes aufgefunden worden. Erstochen mit seiner eigenen Gartenschere. Neusüß hatte in dem Fall ermittelt. Vergeblich. Den Täter hatte er bis heute nicht gefunden und nun trat er ab.
Die Akte des Falls Sommer hatte bis zum letzten Tag auf seinem Schreibtisch gelegen, auch wenn er schon seit einigen Jahren nicht mehr aktiv daran gearbeitet hatte. Wie eine Wunde war dieser Fall für Neusüß, eine Wunde, die einfach nicht heilen wollte.

Die Akte hatte Neusüß an seinem letzten Tag einem jüngeren Kollegen übergeben. Doch ihm war klar, dass nach fünfzehn Jahren kaum mehr Hoffnung bestand, den Fall zu lösen.
Wäre ein solcher Mord in der Stadt passiert, dann wäre die Lage klarer: Jemand hatte das Opfer ausrauben wollen, war auf Widerstand gestoßen und hatte das Opfer im Kampf mit der eigenen Schere erstochen. Sommers Hosentaschen, in denen er stets sein Bargeld herumtrug, waren leer gewesen und sein Handy verschwunden. Raub also. Doch was für ein Räuber lauerte seinen Opfern in Weinbergen auf? Das alles hatte nie Sinn gemacht. Auch jetzt nicht. Fünfzehn Jahre später.

Neusüß fuhr die Serpentinen zum Weingut hinauf und je näher er dem stattlichen Anwesen kam, um so nervöser wurde er. Er würde Marcella Sommer nach zehn Jahren gegenüberstehen. Er hatte die schmale Frau noch genau vor Augen. Doch würde sie ihn erkennen? Zu Beginn der Ermittlungen hatte er sie jede Woche angerufen, um ihr Bericht zu erstatten. Die Abstände zwischen den Anrufen waren jedoch über die Monate und Jahre länger geworden. Schließlich hatte er aufgehört, sie anzurufen.

Neusüß parkte seinen Wagen und stieg aus. Tief sog er die klare Winterluft ein und sah sich um. Wie schön es hier war.
Neusüß dachte an Gerhard Sommer, dem all das hier gehört hatte. Sommer war etwa in Neusüß’ Alter gewesen. Wäre er nicht ermordet worden, wäre er dann auch im Ruhestand? Sicher hatte der Winzer Pläne für seinen Lebensabend gehabt. Hier, an diesem wunderschönen Ort mit seinen beiden Kindern und mit der Frau, die… Neusüß nun von der Eingangstreppe entgegenkam.
„Herr Neusüß!“, rief Marcella Sommer aus. Langsam kam sie auf ihn zu.
Sie betrachtete ihn von oben bis unten. „Sie haben sich kein bißchen verändert.“
Neusüß schmunzelte. Er wußte, dass das eine Lüge war. Er war in fünfzehn Jahren um mindestens zwanzig Jahre gealtert. Als sie sich das letzte Mal gesehen hatten, hatte er noch Haare auf dem Kopf gehabt und die um seinen Mund herum waren noch nicht komplett grau gewesen. Außerdem hatte er etwas an Masse zugelegt.
Neusüß wollte etwas sagen, doch er wußte nicht, was. Die Zeit hatte an ihm genagt. Doch Marcella Sommer sah mindestens zehn Jahre jünger aus, als er sie in Erinnerung hatte. Er dachte an das schmerzverzerrte Gesicht der Witwe zurück, die er damals kennengelernt hatte. Ihre Augen waren immer gerötet gewesen, die Haut blas. Nun war sie das blühende Leben.
„Ich bin hier, um …“
Marcella Sommer winkte ab. „Erst einmal müssen Sie essen.“

Marcella Sommer schickte Neusüß ins Esszimmer des Weinguts. Sie selbst eilte in die Küche, damit das Essen nicht anbrannte.
Das Esszimmer stellte sich Neusüß eher wie ein Speisesaal vor. Offenbar beherbergte das Weingut zu anderen Jahreszeiten Gäste über Nacht. Doch nun war nur ein Tisch gedeckt. Eine junge Frau in schwarzer Hose und weißer Bluse war noch dabei, die Gläser auf dem Tisch zu verteilen.
„Kann ich helfen?“, fragte Neusüß.
„Mutter hat mir gar nicht gesagt, dass wir heute Besuch haben.“ Die junge Frau lachte. „Aber sie dreht mir auf jeden Fall den Hals um, wenn ich mir von Gästen helfen lasse.“
Neusüß neigte den Kopf, um die Frau besser sehen zu können und da erkannte er sie wieder.
„Vega?“
Die junge Frau sah ihn nun direkt an. Es dauerte einen Moment, dann erkannte sie auch ihn. „Herr Neuhof“, sagte sie. „Nein. Neusüß. Herr Neusüß.“
Sie kam mit ausgestreckter Hand auf ihn zu. Obwohl sie lächelte lag ein Schmerz in ihrem Blick. Wie könnte es auch anders sein? Neusüß musste untrennbar mit der Erinnerung an den Tod ihres Vaters verwoben sein. Sie war damals erst einundzwanzig gewesen. Des Vaters Liebling, so hatte es sich zumindest Neusüß dargestellt.
„Darf ich Ihnen einen Wein einschenken?“ Schon griff sie nach einem Glas und zog eine Flasche aus dem Regal.
„Eine Limo wäre mir lieber“, gab Neusüß zu.
Vega hielt inne. „Sie wissen aber schon, wo Sie hier sind?“
Neusüß nickte. „Ich bin nicht wegen des Weines hier.“
Vega stellte die Flasche weg, lief zu einem Kühlschrank und holte zwei Flaschen Zitronenlimonade heraus.
„Die ist eigentlich nur für Kinder.“ Sie öffnete beide Flaschen, reichte Neusüß eine davon und stieß mit ihm an.

„Zu dieser Jahreszeit haben wir wenig Gäste“, klärte Marcella Neusüß auf, als sie etwas später gemeinsam beim Essen saßen.
Außer der Hausherrin und Vega hatten sich auch Marcellas jüngerer Sohn Antonio zu ihnen gesellt und Vegas Ehemann Jan.
Das Essen war köstlich. Neusüß genoss es sehr. Auch die Gesellschaft war wunderbar. Marcella hatte erst ausgiebig erklärt, wie sie das Essen zubereitet hatte, wo die Zutaten herkamen und was sie beim Kochen anders machte als ihre Nonna. Dann schwärmte sie von ihrer Heimat Italien und berichtete von den Herausforderungen des Weinbaus.
Neusüß lachte herzlich über die Zankerei von Antonio und Jan, die über Trauben und Jahrgänge fachsimpelten.
Doch sein eigenes Lachen versetzte ihm einen Stich, als ihm bewußt wurde, dass hier an seiner Stelle eigentlich ein anderer hätte sitzen müssen. Dieses Weingut, dieses Essen, diese Familie, waren Gerhard Sommers gewesen – hätten es noch immer sein sollen.
Marcella, ganz die aufmerksame Gastgeberin, erkannte sofort den Stimmungswandel in ihrem Besuch.
„Ist Ihnen nicht gut?“, fragte sie.
Neusüß winke ab. „Nein, ich dachte nur gerade an … an ihren Mann.“
Vega und Antonio sahen zu ihrer Mutter. Jan senkte den Blick. Marcella nickte langsam.
„Wir dachten uns natürlich, dass Sie nicht hergekommen sind, um mit uns Wein zu trinken.“
Neusüß biss sich auf die Zunge. Nun war es also soweit. Nun würde er mit der Sprache herausrücken müssen, zugeben müssen, dass er versagt hatte und nach fünfzehn Jahren das Geheimnis um den Tod des Familienvaters nicht gelöst hatte.
Abrupt stand Jan auf. „Ich sollte gehen“, sagte er. „Das ist ja eine Familienangelegenheit.“
„Du gehörst doch zur Familie“, sagte Marcella scharf. „Oder nicht?“ Bei der Frage sah sie ihre Tochter fragend an.
Vega blickt auf, als sei sie gerade erst aus einem Traum erwacht. „Ich muss noch arbeiten“, sagte sie und erhob sich ebenfalls.
„Arbeiten? Vielleicht kann ich helfen“, bot Neusüß an.
Nun lachte Vega. „Wie gut kennen Sie sich in Chemie aus?“
„Chemie?“, fragte Neusüß.
„Ich muss noch fünfundzwanzig Klassenarbeiten korrigieren. Chemie. Zehnte Klasse.“
„Vega unterrichtet im Gymnasium“, klärte Antonio Neusüß auf. „Chemie und Physik.“
Neusüß stieß einen anerkennenden Pfiff aus. „Chemie und Physik. Sehr beeindruckend.“
„Und sehr viel Arbeit“, gab Vega zu.
Jan tätschelte Vegas Bein. „Ist ja nicht mehr lange.“
Am Tisch wurde es schlagartig still.
„Wie das?“, fragte Neusüß. Seine Neugierde hatte er mit seinem Dienstausweis nicht abgegeben.
„Marcella“, Jan deutete auf seine Schwiegermutter, „wird demnächst das Zepter an die nächste Generation übergeben. Und Gerhard hätte gewollte, dass …“
Nun sprang auch noch Antonio auf. „Entschuldigt mich.“ Er eilte davon.
Neusüß sah ihm nach. „Was hat er denn?“
„Er ist sehr empfindlich, wenn es um seinen Vater geht.“
Jan ließ sich wieder auf seinem Stuhl nieder. Er wollte sich seine Rede offenbar nicht verderben lassen. „Also Gerhard hätte gewollt, dass Vega das Weingut übernimmt.“
„Ich werde nach Antonio sehen.“ Vega folgte ihrem Bruder hinaus.
Jan nahm noch einen Schluck Wein. „Herrliches Aroma.“
Neusüß fand es gar nicht herrlich.

Auch wenn er auf dem Weingut nur zu Gast war, ließ Neusüß es sich nicht nehmen, nach dem Essen in die Küche zu schleichen, um beim Abwasch zu helfen.
Antonio stand an der Spüle und lächelte leicht, als er ihn sah.
„Es tut mir leid“, sagte er. „Es war unhöflich von mir, einfach zu verschwinden.“
Neusüß winkte ab. „Die Nachfolge Ihrer Mutter scheint ein schwieriges Thema zu sein.“
Antonio lachte kurz auf. „Das ist es wohl. Genauso wie der Tod meines Vaters.“
Eine Weile arbeiteten sie schweigend. Antonio spülte. Neusüß trocknete ab.
„Vega will das Weingut nicht“, platzte Antonio plötzlich heraus.
Neusüß horchte auf. „Nein?“
Antonio schüttelte den Kopf. „Nein. Sie ist Lehrerin. Ich meine, sie ist Lehrerin von Herzen. Das ist ihre Berufung. Die Physik und die Chemie, das ist ihre Welt. Nicht die Reben und der Wein.“
„Und was ist mit Ihnen?“
Antonio reichte Neusüß einen Teller. „Meine Welt ist das Weingut. Wenn ich es mir aussuchen könnte, würde ich nie hier weggehen.“
Nachdenklich nickte Neusüß. „Weiß Ihre Mutter das alles?“
Erneut schüttelte Antonio den Kopf. „Vega würde ihr nie sagen, dass sie das Weingut nicht will. Es war Vaters Wunsch. Es gab immer Streit, weil Vega Physik und Chemie studiert hat. Wenn sie in den Semesterferien nach Hause kam, ging es nur darum. Warum sie das Studium nicht abbricht und endlich zurück zum Weingut kommt, um alles zu übernehmen. Vega hat immer gemacht, was sie wollte. Doch als Vater dann …“ Antonio brachte die Worte nicht heraus. „Als er dann weg war. Da kam sie zurück. So als müsste sie ihm diesen letzten Wunsch erfüllen. Und Jan, der Idiot, bestärkt sie noch darin. Ich konnte sie dazu bringen, wenigstens eine Weile als Lehrerin zu arbeiten. Wenigstens bis Mutter zurücktritt. Ich dachte, wenn sie erst einmal Lehrerin ist, dann wird sie auch dabei bleiben.“ Er zuckte die Schultern.
Interessant, fand Neusüß.

Marcella saß noch immer am Esstisch, wo alle anderen sie zurückgelassen hatten. Sie spielte mit einer Kerze, die vor ihr auf dem Tisch stand und drückte den weichen Wachsrand der Flamme entgegen.
Neusüß setzte sich zu ihr. „Sie haben eine wunderbare Familie und ein wunderbares Zuhause.“
Marcella Sommer lächelte ihn dankbar an. „Es war nicht immer einfach. Und manchmal ist es noch immer schwer.“
Neusüß beschloss, zu schweigen. In seiner Erfahrung reichte das oft, um Leute zu sprechen zu bringen. Und Marcella hörte er so gerne sprechen.
„Ich dachte eigentlich, es habe sich nun langsam alles wieder eingerenkt. Aber da habe ich mich wohl geirrt.“
„Was meinen Sie?“
Marcella Sommer seufzte. „Die ganze Sache mit meiner Nachfolge. Gerhard wollte, dass Vega das Gut übernimmt. Aber sie wollte nicht. Kurz bevor er starb, hat er eingesehen, dass es falsch war, Vega dazu zu zwingen. Er wollte lieber eine glückliche Tochter, als eine, die in seine Fußstapfen tritt. Er hatte sich entschlossen, Antonio als Nachfolger auszubilden. Auch wenn er damals noch zu jung dazu war. Er hatte Jan damit beauftragt, Antonio langsam in alles einzuführen.“
Neusüß erinnerte sich nun. Jan hatte damals schon hier gearbeitet. Er war Gerhards rechte Hand gewesen. Nach Gerhard und Marcella der dritte in der Rangfolge. Nun war er also mit Vega verheiratet.
„Aber dann starb Gerhard und Vega setzte es sich in den Kopf, ihrem Vater diesen einen Wunsch zu erfüllen. Ich habe ihr gesagt, dass er das gar nicht mehr gewollt hat. Aber das wollte sie mir nicht glauben.“
Interessant, fand Neusüß.

Neusüß fand Vega in der Bibliothek des Guts. Die junge Frau war tief über ein Schulheft gebeugt und lächelte selig.
„Sie lieben Ihre Arbeit.“
Vega schrak auf. „Sie haben mich erschreckt.“
Neusüß nahm auf einem der Sessel Platz.
„Ja, ich liebe meine Arbeit. Aber es ist nur vorübergehend. Wenn Mutter das Gut abgeben will, dann werde ich da sein.“
„Sehr tapfer“, bemerkte Neusüß.
Vega sah ihn eindringlich an. „Was meinen Sie?“
„Das ist nicht ihr Plan gewesen. Ich meine, als Sie ihr Studium begonnen haben, da hatten Sie vor, Lehrerin zu werden. Und Lehrerin zu bleiben.“
Vega legte ihren Stift beiseite und verschränkte die Hände ineinander. „Nein, das ist nicht der Plan gewesen. Aber Pläne ändern sich.“
Neusüß nickte. „Wissen Sie, was der Plan Ihres Bruders gewesen ist, bevor ihr Vater starb?“
Vega schluckte. „Ich denke, er … er hätte sich vorstellen können … er wollte vielleicht …“
„Er wollte das Weingut übernehmen“, sagte Neusüß.
„Nein, das glaube ich nicht. Er hat nie etwas in diese Richtung gesagt!“
Interessant, fand Neusüß.

Neusüß blieb in der Bibliothek sitzen und beobachtete Vega bei der Arbeit. Marcella gesellte sich irgendwann dazu und entfachte ein Feuer im Kamin. Wenig später kam auch Antonio dazu. Er brachte Espresso für alle.
Neusüß lächelte selig vor sich hin, als er seinen Kaffee trank. Diese Familie war einfach wunderbar. Saßen gemeinsam in Stille.
Ein leiser Neid überkam ihn. Neid ausgerechnet auf einen Toten, dem all das zustand, dem es aber verwehrt war, weiterhin daran teilzuhaben.
Das Schweigen hielt an, bis Vega das letzte Schulheft zuklappte.
„Fertig für heute“, verkündete sie und setzte sich zu den anderen an den Kamin.
„Wollen Sie uns nun verraten, warum Sie uns heute hier besuchen?“, fragte Marcella.
Neusüß nickte und richtete sich auf. „Aber ich denke, wir sollten Ihren Mann noch dazu holen“, sagte er zu Vega.
Vega ging hinaus und kam wenig später mit Jan zurück.
„Ich bin gestern pensioniert worden“, begann Neusüß. „Mehr als dreißig Jahre habe ich Verbrechen aufgeklärt. Doch ein Fall wird hat mich länger beschäftigt als alle anderen. Und wird mich auch weiterhin noch beschäftigen.“
Er sah von einem zum anderen. Er mochte die Familie Sommer und fürchtete, dass er ihnen furchtbar wehtun würde, wenn er weitersprach, trotzdem tat er es.
„Der Mord an Ihrem Mann, an Ihrem Vater, gibt mir bis heute Rätsel auf. Ich habe nie verstanden, wie er so sterben konnte. Ein Raubmord auf dem Weinberg, das machte nie Sinn. Doch ein Motiv gab es nicht. Richtig?“
Er sah erst Vega, dann Antonio eindringlich an.
„Er hat damit nichts zu tun!“, rief Vega aus. „Lassen Sie ihn in Ruhe.“
Antonio sah seine Schwester an. „Ich? Wie kommst du darauf, dass er mich verdächtigen könnte?“
Einen Moment ließ Neusüß der Familie Zeit.
„Ihre Schwester denkt, dass Sie wütend auf Ihren Vater waren, weil er Vega und nicht Ihnen das Gut vermachen wollten.“ Er wandte sich an Vega. „Das dachten Sie doch, oder? Deswegen haben Sie vorhin so darauf beharrt, dass Ihr Bruder niemals vorgehabt hatte, das Gut zu übernehmen. Richtig?“
Vega senkte den Blick und Antonio schüttelte nur den Kopf. „Du dachtest, ich hätte ihn umgebracht?“
Nun schüttelte Vega den Kopf. „Natürlich nicht. Aber ich wollte nicht, dass er auf diese Idee kommt.“
„Dabei hätten Sie, Vega, doch ebenso viel Grund gehabt, wütend auf ihren Vater zu sein. Denn immerhin wollte er Sie zwingen, das Gut zu übernehmen. Das dachten Sie zumindest. Richtig?“
Vega nickte. „Aber ich habe ihn nicht umgebracht.“
Auch Neusüß nickte. „Das weiß ich. Und ich weiß auch, dass Ihr Vater Sie nicht mehr zwingen wollte. Im Gegenteil, er hatte vor, Antonio zu seinem Nachfolger heranzuziehen. Ist das nicht richtig, Jan?“
Jan schreckte hoch. Er hatte offensichtlich nicht damit gerechnet, Teil des Gesprächs zu werden.
„Ich weiß nicht“, stammelte er.
„Was soll das heißen, du weißt es nicht?“, fragte Vega. „Ich habe dich damals danach gefragt, weil Mutter behauptet hat, dass Vater mich nicht mehr zur Nachfolge zwingen wollte. Du hast gesagt, dass er das nie gesagt hat.“
Nun meldete sich Marcella zu Wort. „Was? Gerhard hat dir aufgetragen, Antonio in alles einzuweisen. Und das hast du doch auch getan.“
Jan hob abwehrend die Hände. „Das habe ich getan, weil Antonio sich dafür interessiert hat. Mir wurde gar nichts aufgetragen.“
Marcella sah von von ihrem Sohn zu ihrer Tochter.
„Was wäre eigentlich aus Ihnen geworden“, fragte Neusüß, „wenn Gerhard abgetreten wäre und das Gut Antonio übergeben hätte?“
„Dann wären wir in die Stadt gezogen“, warf Vega ein.
Jan lachte auf, was ihm einen giftigen Blick von Vega einbrachte.
„Wir hatten vereinbart, dass wir in die Stadt ziehen, wenn ich das Gut nicht übernehmen muss. Damit ich nicht so weit zur Arbeit fahren muss und du dir einen anderen Job suchen kannst.“
„Ich wollte aber keinen anderen Job“, gab Jan zurück.
„Aber du wolltest auch nicht unter Antonio die Nummer zwei sein“, gab Vega zurück. „Du hast immer gesagt, dass du es nicht aushalten könntest, weil er so viel jünger ist als du.“
Wieder wurde es still. Dann erhob Neusüß sich.
„Ich fasse das mal zusammen“, begann er. „Wäre Gerhard nicht umgebracht worden, dann hätten Sie, Vega, als Lehrerin arbeiten können und Sie, Antonio, hätten irgendwann das Weingut übernommen. Frieden in der Familie. Aber Sie, Jan, hätten sich entweder damit abfinden müssen, unter einem jüngeren Chef zu arbeiten. Oder das Weingut aufzugeben und von hier wegzuziehen.“
Nun starrten alle Jan an. Der begann, auf seinem Sessel hin und her zu rutschen.
„Und? Was soll das bedeuten? Dass ich einen Grund gehabt hätte, Gerhard umzubringen? Das glaubt ihr?“ Er sprang auf. „Nach allem, was ich für euch getan habe?“
„Und was genau wäre das?“, fragte Marcella spitz.
„Ich habe … Ohne mich wärt ihr …“ Er stampfte mit dem Fuß auf, wie ein wütendes Kind. „Ihr habt doch keine Ahnung. Gerhard hatte mir versprochen, dass ich das Gut übernehmen kann. Aber dann hat er sich in den Kopf gesetzt, dass Vega es übernehmen soll. Also musste ich sie wohl heiraten, um das Gut irgendwann zu erben. Aber dann hat er sich auch das anders überlegt und wollte alles diesem Kind überlassen.“ Er deutete auf Antonio. „Da musste ich doch …“
Vega sah Jan entsetzt an. „Du musstest mich heiraten?“
Jan öffnete und schloss den Mund ein paar Mal. „Das … Ich habe das nicht so gemeint.“
„Da musstest du doch was?“, fragte Antonio.
Jan sah hilfesuchend von seiner Frau zu Neusüß. „Ich wollte das nicht. Wirklich. Es war ein Unfall. Wir haben gestritten und er hatte die Schere in der Hand. Und ich … Er ist auf mich losgegangen.“
Neusüß nickte und zog sein Handy aus der Tasche. „Deswegen haben Sie auch sein Handy mitgenommen und seine Geld. Weil alles ein Unfall war und Sie so reumütig.“
Schon hatte er eine Verbindung zu den Kollegen und bestellte eine Streife, um den mutmaßlichen Mörder von Gerhard Sommer abholen zu lassen. Dass die Kollegen später noch Pläne für Vegas Ableben in Jans Sachen finden würde, das konnte noch keiner ahnen. Pläne, die Jan in die Tat umsetzen wollte, sobald seiner Frau das Weingut überschrieben worden wäre, so dass er es erben würde.

Marcella Sommer begleitete Neusüß zu seinem Auto.
„Wir wissen immer noch nicht, warum Sie heute hier hergekommen sind“, sagte sie.
„Ich wollte mich entschuldigen, weil ich den Mord an Ihrem Mann nicht aufgeklärt habe.“
„Ah“, machte Marcella. „Ich dachte schon, Sie seien gekommen, um mich wiederzusehen.“
Neusüß konnte nicht verhindern, dass ihm die Hitze in die Wangen stieg. Das war ihm schon ewig nicht mehr passiert.
„Vielleicht könnte ich deswegen wiederkommen“, sagte er keck.
Marcella Sommer lächelte. „Wenn Sie nichts Anderes vorhaben, bleiben Sie doch einfach.“