Ich denke sofort an diesen Tag zurück. An diesen Tag im Dezember vor zwei Jahren. Im ersten Augenblick weiß ich nicht warum. Im zweiten erschreckt es mich, dass ich nicht einen Moment darüber nachdenken muss, warum bei unseren Nachbarn die Polizei vor Tür steht. Dass mir sofort klar ist, worum es geht.
Blaulicht gibt es nicht. Auch keine Sirenen. Aber mehrere Einsatzfahrzeuge parken gegenüber. Männer – teils in Uniform, teils in Zivil – schleppen kistenweise Zeug aus dem Haus von Birgit und Jürgen.
Ich stehe in meinem Vorgarten, schaue über die Straße und denke daran, was das für unseren Ort bedeutet. Wie lange wird es wohl dauern, bis die Presse hier ist?
Werden Sie versuchen, die Leute im Ort zu befragen? Werden sie von uns wissen wollen, ob wir ihn kannten? Wie gut? Ob wir etwas geahnt haben?
„Das hätte ich nie gedacht“, sagen die Nachbarn von Monstern üblicherweise im Regionalfernsehen. Oder: „Der war immer so höflich. Das konnte keiner ahnen.“
Und ich? Konnte ich das ahnen? Wieder denke ich an den Dezembertag zurück. Ich war so im Streß. Wie immer in der Vorweihnachtszeit. Aber in diesem Jahr besonders.
Unser Chorkonzert stand vor der Tür. Es war so viel vorzubereiten, weil in diesem Jahr zum ersten Mal nicht nur wir Erwachsenen dort sangen, sondern auch der neu gegründete Kinderchor.
Birgit singt mit mir gemeinsam im Sopran. Doch sie hatte sich in den Monaten zuvor intensiv bei der Gründung des Kinderchores engagiert.
„Jürgen meinte, das wäre gut für mich“, erzählte sie mir damals. „Wo wir doch selbst keine Kinder haben.“ Ob Birgit oder Jürgen jemals Kinder hätten haben wollen, weiß ich nicht. Aber sie sind beide schon nahe den sechzig. Nun ist es zu spät.
Bis zu diesem Konzert hatte ich Jürgen nie bei einem unserer Auftritte gesehen. Niemals. Er kam zum Sommerfest, um sich volllaufen zu lassen. Aber bei einem der Konzerte zuhören oder gar mitsingen, das kam für ihn nicht in Frage.
Deswegen war ich so verwundert, als ich am Nachmittag auf der Bühne stand und Jürgen in der dritten Reihe sitzen sah. Er hatte sich sogar eine Krawatte umgebunden und strahlte geradezu, als wir das erste Lied anstimmten. Fröhliche Weihnacht überall. Wir sangen es gemeinsam mit den Kindern. Jürgen war wie gebannt. Er lächelte selig, das fiel mir gleich auf, weil er sonst so gut wie nie lächelt.
Die Kinder sangen noch drei Lieder ohne uns Erwachsenen und Jürgen sah ganz verzück aus. Es war offensichtlich, dass es ihm gefiel.
Doch als wir – der Erwachsenenchor – sangen, verschwand die Verzückung von seinem Gesicht. Da war wieder der Jürgen, den ich kannte. Der von der anderen Straßenseite aus den Arm zum Gruß hob, wenn er mich Laub fegen sah. Der kaum die Zähne auseinander bekam, wenn man ihn fragte, wie es so ging.
Gelangweilt sah er aus. Zeitweise las er etwas auf dem Handy.
Erst als die Kinder zur Schlussnummer wieder auf die Bühne kamen, hellte sich sein Gesicht wieder auf. Seitdem war Jürgen im Gesangverein sehr engagiert – vor allem bei den Kindern.
Mir kommt die Galle hoch, als ich daran denke, wie leidenschaftlich er dabei war, als es darum ging für die Kinder Bühnenoutfits für das Konzert im letzten Sommer auszusuchen. Kurze Röcke mit Schottenmuster für die Mädchen. Das war sein Favorit.
Jetzt denke ich, dass ich etwas hätte sagen müssen. Hätte ich ihn anzeigen sollen? Hätte ich verhindern können, was in den letzten beiden Jahren passiert ist, wenn ich nur etwas gesagt hätte? Aber wem hätte ich überhaupt was erzählen sollen?
Irene von nebenan kommt zu mir an den Gartenzaun.
„Hast du schon gehört?“, fragt sie.
Ich schüttle den Kopf. Gehört habe ich noch gar nichts. Mir nur alles zusammengereimt. Aber das muss Irene nicht wissen. Soll sie mir doch brühwarm erzählen, was ich tief in mir sowieso schon weiß. Seit zwei Jahren!
Sie beugt sich zu mir herüber. „Es geht um Mord“, flüstert sie.
„Mord?“, rufe ich aus, ohne es zu wollen.
Irene nickt eifrig. „Die Birgit hat den Jürgen vergiftet. Kannst du das glauben? Heute Nacht haben sie schon seine Leiche abgeholt und Birgit gleich mit.“
Ich schüttle den Kopf. Fassungslos. „Das hätte ich nie gedacht.“