Der Wagen fällt mir auf, weil er viel zu langsam fährt. Es ist halb drei am Morgen, die Straßen sind leer und das Auto ist ein Sportwagen. Eigentlich keine Karre zum Langsam-Fahren.
„Ist der nicht gerade schonmal hier langgefahren?“, fragt Nina vom Beifahrersitz aus.
Seit ich vor drei Monaten den Führerschein gemacht habe, fahre ich sie nach jeder Party nach Hause. Dann parken wir gegenüber von ihrem Elternhaus, sitzen noch ewig im Auto und quatschen bis die Sonne aufgeht.
Vor ein paar Minuten ist schon ein Auto hier entlanggefahren. Ob es das gleich war? Keine Ahnung.
Ich wende den Blick von der Straße ab und wieder Nina zu. Denn gerade war sie dabei, mir von dem Typen zu erzählen, den sie heute Nacht im Club kennengelernt hat. Der studiert schon. Irgendwas auf Lehramt. Unkonventionell süß ist er, meint Nina.
Ich habe ihn nur von hinten gesehen. Leider. Unkonventionell süß klingt gut. Obwohl Nina meiner Meinung nach einen schrägen Geschmack hat, wenn es um Männer geht.„Jedenfalls …“, setzt sie wieder an. Doch ihr Blick geht an mir vorbei. „Da ist er wieder.“
Ich drehe mich zur Straße. Tatsächlich. Der Sportwagen schleicht schon wieder heran. Diesmal aus der anderen Richtung. Jetzt fährt er nicht nur viel zu langsam, sondern auch viel zu dicht an den parkenden Autos vorbei.
Er rollt aus bis seine Fahrertür neben meiner ist. Dann hält er an.
„Der kennt sich hier bestimmt nicht aus und will nach dem Weg fragen“, sage ich und lasse mein Fenster herunter.
Doch ich starre mich nur selbst an. Mein Gesicht spiegelt sich in der getönten Scheibe des anderen Autos.
„Ist der blöd?“, will Nina wissen.
Mich überläuft ein kalter Schauer, obwohl die Sommernacht lau ist. Ich lasse das Fenster wieder hinauffahren und drehe mich zu Nina um. Doch sie will ihre Geschichte nicht wieder aufnehmen. Wie gebannt starrt sie an mir vorbei durch das Seitenfenster.
Plötzlich zuckt sie zusammen. Ich drehe mich um und sehe nun den Fahrer des anderen Wagens. Er hat die getönte Scheibe heruntergelassen und sieht herüber.
Er ist etwas älter als wir. Vielleicht Anfang zwanzig. Schwarzes Haar, markantes Kinn, blaue Augen. Es schmeichelt mir, dass er Nina überhaupt nicht beachtet. Dass er nur mich ansieht.
Sekundenlang passiert gar nichts.
Je länger er sich nicht bewegt und mich nur anstarrt, um so merkwürdiger kommt mir sein Gesicht vor. Die zusammengepressten Kiefer. Die stechenden Augen.
„Was zum Teufel?“ Ich weiß, dass es unhöflich ist, jemandem den Rücken zuzudrehen, wenn man mit ihm spricht. Aber ich kann mich nicht Nina zu- und von diesem Typen abwenden. Irgendwie habe ich Angst, dass er sich nur bewegt, wenn ich nicht hinschaue.
„Lass bloß das Fenster zu“, sagt Nina.
Ich bin ja nicht blöd, denke ich, sage aber: „Der ist bestimmt harmlos.“
Als hätte er mich gehört und als wollte er diese Aussage bestätigen, versucht der Typ ein Lächeln. Aber da ist keine Wärme. Keine Herzlichkeit. Er zieht nichtmal die Mundwinkel hoch. Er zeigt einfach nur seine Zähne.
Eine Minute „lächelt“ er mich so an. Noch eine Minute.
„Was für ein Creep!“ Nina stößt mich an. „Tu doch was!“
„Und was?“ Aus reinem Reflex drehe ich mich zu Nina um. Sofort läuft es mir eisig über den Rücken. Wie Eiswürfel auf der Haut, so fühlen sich seine Blicke in meinem Nacken an. Schnell wende ich mich ihm wieder zu.
Denk nach, fordere ich mich selbst auf. Denk nach.
Warum musste ich unbedingt hier parken? Ich musste rangieren wie eine Blöde, um in diese Parklücke reinzukommen. So, mit dem Sportwagen neben mir, komme ich hier nicht raus. Auf der Beifahrerseite ist nur ein schmaler Bürgersteig, dann ein Graben und dann fängt der Wald an. In die Richtung kommen wir also auch nicht weg. Ich kann nichtmal die Tür auf meiner Seite des Autos aufmachen, weil der Creep so dicht an uns geparkt hat.
Ich ziehe mein Handy aus dem Handschuhfach.
„Ruf doch deine Eltern an“, schlage ich vor. „Dein Vater soll rauskommen und dem Typ einen Einlauf verpassen.“
Nina lacht kurz auf. „Kannst du vergessen. Mein Vater verpasst eher mir einen Einlauf, wenn ich ihn um die Zeit wecke.“
„Und was sollen wir jetzt machen?“
„Ruf doch die Polizei.“
Ja, die Polizei, denke ich. Dann fällt mir ein, dass ich zwei Radler getrunken habe, bevor wir in den Club gegangen sind. Das ist schon ein paar Stunden her, aber … Ich weiß nicht wie viel Alkohol in einem Radler ist und wie lange mein Körper braucht, um Alkohol abzubauen … Aber ich weiß, dass ich keine Lust habe, wegen so einem Creep den Führerschein abzugeben.
Ich packe das Handy zurück ins Handschuhfach. Dann schaue ich den Typen wieder an. Er hat sich keinen Millimeter bewegt. Noch immer starrt er mich an mit diesem toten Lächeln.
Eine Minute vergeht. Meine Gedanken rasen. Ich weiß nicht, was wir machen sollen.
Da höre ich das Geräusch einer sich öffnenden Autotür.
Ich habe mich noch nicht ganz zu Nina umgedreht, da steht sie auch schon auf dem Bürgersteig. „Danke fürs Fahren!“
Sie rennt los.
Um das nächste Auto herum.
Über die Straße.
Trotz Minirock und 15 Zentimeter-Absätzen schafft sie den Sprung über das Gartentor und den Weg durch den Vorgarten in Rekordzeit.
Ich sehe, wie sie vor der Tür ihres Elternhauses stehenbleibt und beginnt, in ihrer Handtasche zu kramen.
Oh Nina! Warum hast du deinen Schlüssel nicht schon im Auto aus der Tasche geholt?
Mein Blick wandert von Nina zu dem Creep, der nun endlich seinen Blick von mir nimmt und Nina hinterherschaut.
Oh Nina! Beeil’ dich!
Noch immer kramt sie in ihrer Scheiß-Tasche.
Beeile dich!
Der Creep dreht sich im Sitz um, so dass er einen besseren Blick auf Nina hat.
Er müsste auf der Beifahrerseite seines Wagens aussteigen. Bis er das geschafft hat und den Weg durch den Vorgarten gemacht hat, ist Nina hoffentlich im Haus.
Ich sehe, wie sie sich bückt. Hat sie etwa den Schlüssel fallenlassen? NINA!
Der Creep verharrt in seiner Position bis hinter Nina die Haustür zufällt. Dann dreht er sich wieder mir zu.
Ich greife wieder zum Handy. Diesmal um Nina anzurufen.
Klar bin ich froh, dass sie in Sicherheit ist. Aber jetzt, da ich mir um sie keine Sorgen mehr machen muss, bin ich stinksauer, dass sie mich im Stich gelassen hat.
Ich schaue an dem Creep vorbei zum Haus. Zu dem Fenster im ersten Stock, hinter dem sich Ninas Zimmer befindet. Dort muss jeden Moment das Licht angehen. Ihr Handy liegt mit Sicherheit auf ihrem Schreibtisch. Da lässt sie es immer, wenn wir tanzen gehen. Das nimmt sie nicht mit, weil sie schon zwei auf Parties verloren hat.
Also warte ich. Und warte. Das Zimmer bleibt dunkel.
Vielleicht macht sie das Licht nicht an, damit der Typ nicht weiß, in welchem Zimmer sie wohnt.
Ich rufe Nina an.
Es läutet nichtmal. Ich kriege sofort die Voicemail. Verdammte Verräterin! Wie kann sie mich nur so im Stich lassen?
Ein Klopfen reißt mich aus den Gedanken. Vor Schreck schreie ich auf.
Der Typ hat seinen Arm aus dem Fenster gestreckt und klopft an meine Seitenscheibe.
Noch immer zeigt er mir seine Zähne. Noch immer starrt er mich an.
Er macht eine Geste, die wohl bedeutet, dass ich die Scheibe runterlassen soll.
Soll ich?
Ich öffne das Fenster nur einen Spalt. Nur soweit, dass ich hören kann, was er zu sagen hat.
„Hi“, sagt er und zieht das Wort unnötig in die Länge. „Du bist mir gleich aufgefallen, als ich das erste Mal hier rumgefahren bin.“
Will der mich tatsächlich nur abgraben? War das der Plan? Hat es ihn vielleicht einfach nur schmerzhafte fünfzehn Minuten gekostet, sich diesen Satz auszudenken?
Beinahe muss ich lachen.
„Aha“, sage ich nur.
„Jedenfalls wollte ich dich nach deiner Nummer fragen. Vielleicht können wir ja mal …“
„Nee“, sage ich schnell. „Sorry. Kein Interesse.“
Ich fahre die Scheibe noch nicht hoch. Er soll die Gelegenheit haben, seine Wut an mir auszulassen. Die Reaktion, die ich auf so eine Absage bekomme, liegt üblicherweise irgendwo zwischen „du bist sowieso nicht mein Typ“ und „dann fick dich doch selbst du Hure“.
Aber seine Reaktion liegt nicht im üblichen Bereich.
Er nickt langsam. Ich sehe, dass er die Kiefer wieder aufeinander presst. Das „Lächeln“ verschwindet und er sieht wieder recht attraktiv aus. Er schaut mich nicht mehr an, lässt das Fenster hoch und fährt wortlos davon.
Ich lasse mich im Sitz zurückfallen und atme tief durch. Was für ein Creep! Ich lasse ein paar Minuten verstreichen, um wieder runterzukommen. Da höre ich es im Handschuhfach vibrieren.
Nina!
Die Nerven an dieser Frau. Erst lässt sie mich hier alleine und kaum ist der Typ weg, meldet sie sich wieder. Vermutlich hat sie die ganze Zeit im dunklen Fenster gestanden und uns beobachtet. Bitch! Kann sie vergessen, dass ich ihr erzähle, wie ich ihn losgeworden bin.
Ich parke aus und mache mich auf den Heimweg. Noch immer rast mein Herz. Doch als ich auf die Landstraße einbiege, wird es besser. Ich muss nur an drei Käffern vorbei. In fünfzehn Minuten bin ich zu Hause.
Ich lasse das Fenster ganz herunter und mein Haar vom Fahrtwind zerzausen. Ich trete aufs Gas. Außer mir ist um diese Uhrzeit niemand mehr unterwegs.
Niemand, außer …
Hinter mir tauchen Scheinwerfer auf und kommen schnell näher.
Ich gehe vom Gas. Auf der Landstraße rasen die Leute nachts immer wie die Bekloppten. Soll er mich doch überholen.
Tut er aber nicht.
Stattdessen klebt er sich an meine Stoßstange.
Ich sehe im Rückspiegel, dass es ein schwarzer Sportwagen ist. Das kann nicht sein. Oder? Oder?!?
In dem Sportwagen geht das Licht an und ich sehe deutlich den Creep. Er starrt mich an. Und zeigt mir die Zähne.